Das Misstrauen in der EU-Integration* hängt mit der Umsetzung der EU-Abkommen im Grundgesetz der Mitgliedsstaaten zusammen. Das ist eindeutig ein großes Signal zum Abbau der Demokratie. Bis 1963 hat sich das europäische Recht nach dem internationalen Recht orientiert. Das europäische Recht konnte für die Mitgliedsstaaten und für die Einwohner erst in Kraft treten, wenn es in der Grundverfassung verankert wurde.
Ganz im Gegenteil erwähnt der EUGH in Luxemburg in jenem Jahr. Die Abkommen (Rechtsprechung von Van Gend & Loos) müssen sofort in Kraft treten. Das bedeutet, dass diese in Kraft treten, auch, wenn sie für die Bürger/innen nachteilig sind. Das bedeutet ebenfalls, dass die Bürger/innen vollständig aus dem politischen Entwicklungsprozess Europas ausgeschlossen bleiben.
Diese aber können versuchen, die Einhaltung der europäischen Gesetzgebung der Abkommen bei ihrem jeweiligen Bundesgerichtshof zu fordern, ohne darauf zu warten, dass dem Grundgesetz die Rechtsprechung der EU-Abkommen angepasst wird. Das bringt einen großen Vorteil für Großunternehmen mit sich. Im Klartext heißt das, dass das europäische Recht über das Bundesverfassungsgesetz steht.
Der EUGH behandelt die Abkommen als ein Grundgesetz bzw. mehr oder weniger unabhängig von der Einwilligung der Mitgliedstaaten, in aller Objektivität und ohne auf der nationalen Gesetzgebung zu achten. Eine direkte Konsequenz: Die Einmischung einzelner Mitgliedstaaten wird nicht mehr gebraucht, um die EU-Marktentwicklung voranzutreiben.
Sowohl die Kommission als auch der EUGH können die Wirtschaftsintegration selber in die Hand nehmen. Wenn sie feststellen, dass ein Grundgesetz gegen den EU-Binnenmarkt verstoßt, können sie es als nicht konform erklären, ohne, dass die Regierung eines Mitgliedsstaates sich dagegen wehren kann.
Ein gutes Beispiel ist Italien im Fall eines Verbots des Genmais (MON 810). Der EUGH hat Italien aufgefordert, dieses zu unterlassen. Tatsächlich hängt alles mit der Interpretation des EUGH zusammen: für eine liberale Wirtschaft oder eher für eine öffentliche Vorsorge, für die Einheitlichkeit der Normen oder eher für Landesnormen usw. Der EUGH folgt eindeutig die Wirtschaftsvorgaben, ohne auf die lokalen Gegebenheiten je einem Mitgliedsstaat zu achten. Alles wird zentral vorgegeben.
Die Gewinner dieser Gesetzgebung sind die vier Wirtschaftsfreiheiten: Freiverkehr von Gütern, Personen und Dienstleistungen. Die EU ist mehr eine Frage der Rechtsprechung als eine der Gesetzgebung. Auf dieser Weise werden alle Konkurrenzschutzregel als Regulation feindlich eingesehen.
Das Verbot den Unternehmen staatliche Subventionen zu gewähren, die die Konkurrenz abschwächt, geht so weit, dass es sowohl dem privaten als auch dem öffentlichen Sektor zutrifft, egal welche Zielbestimmung der Gesetzgeber hat und ungeachtet der Tatsache, ob der Markt die gleichen Güter oder Dienstleistungen mit einer gleichen Qualität liefern kann oder nicht. Ausnahmen werden sehr restriktiv geduldet. Die zahlreichen Privatisierungen der letzten zehn Jahren hängen mit der Rechtsprechung des EUGH zusammen.
Es muss stark betont werden, dass alle unter diesen Gesetzen nicht ausschließlich aus den Abkommen abstammen, alle aber wohl ersatzlos auf dem Markt kamen. Diese Rechtsprechung hat selbstverständlich einen großen Einfluss auf den Gesetzen und der Politik der Mitgliedstaaten. Das Verbot von Wirtschaftsschränken lässt manche Staaten Machtlos, wenn es darum geht, ihre eigenen Qualitätsanforderungen im Bereich der Gesundheit, der Güter oder der Beschäftigung einzuhalten.
Das Subventionsverbot machen es den Regierungen unmöglich, zu entscheiden, welche Wirtschaftsteile sie dem Wirtschaftsmarkt überlassen und welche nicht. Die Umsetzung der Europäischen Charta d .h. die vier Grundrechte der EU (seit Dezember 2000 in Kraft) sowie die Verstärkung der vier Wirtschaftsfreiheiten neigen dem Wirtschaftsrecht zugute zu kommen, wohingegen die Bundesgerichtshöfe je einem EU-Staat Vorrang dem Personenrecht gibt.
Der EUGH wird oft als Erfolg der europäischen Konstruktion gesehen. Dennoch, die Wirtschaftsseite hat eine Kehrseite: der Verlust der demokratischen Rechtmäßigkeit in der EU. Diese Kehrseite ist bekannt geworden, als die Bürger/innen sich bewusst wurden, dass das Ziel der EU-Integration nicht nur aus ökonomischen Grund bestand, sondern auch aus politischen.
Auf dieser Weise haben die Bürger/innen de facto kaum einen Einfluss auf die EU-Entwicklung. Einige guten Beispiele sind die Wirtschaftsabkommen CETA, TTIP, TISA, JEFTA und alle andere Handelsverträge, die sehr undemokratisch von den EU-Behörden hinter verschlossenen Türen durchgepeitscht wurden.
Es geht um die Rechtsprechung des EUGH. Die EU hat jetzt zwei Integrationswege zur Verfügung stehen, statt nur einen. Der alte Weg besteht daraus, primär europäisches Recht (die Abkommen) zu verfassen und sekundär (Richtlinien, Regel von den EU-Institutionen) zu bestimmen. Der neue Weg besteht aus der Interpretation und der Umsetzung der Abkommen, wie sie von dem EUGH verfasst werden.
Dieser steht der exekutiven und der judikativen Macht (Kommission, EUGH) offen. Diese zwei Wege unterscheiden sich sehr voneinander. Auf dem ersten übertragen die Mitgliedstaaten eigene Kompetenzen an der Union. Dieser Weg ist politisch. Er bezieht sich auf die demokratisch legitimen und kontrollierten Behörden der Mitgliedstaaten und auch auf das Europäische Parlament. Auf dem zweiten Weg nimmt die Union Kompetenzen von den Mitgliedstaaten weg.
Aus verwaltungstechnischem und gesetzlichem Grund ist dieser Weg von den demokratisch legitimen und kontrollierten EU-Instanzen weit entfernt. Es handelt sich um eine geheime Integration, wo die verwaltenden und gesetzlichen EU-Behörden über eine nicht zu unterschätzende Unabhängigkeit verfügen.
Das alles will nicht bedeuten, dass der EUGH eine liberale Wirtschaftspolitik betreibt. Sie hat zum Ziel, den europäischen Wirtschaftsmarkt zu verfestigen und weiterzuentwickeln. Dieses Ziel wurde eindeutig mithilfe der Abkommen konkretisiert. Viele Wirtschaftsakteure behaupten, dass zu viele nationalen Gesetze die Freiheit des Unternehmenstuns einschränken. Nur zum Nachteil der Bürger/innen kann der EUGH den EU-Wirtschaftsmarkt verfestigen.
Insbesondere, wenn der EUGH die Landesgesetze je einem Mitgliedsstaat abschafft. Selbstverständlich zum Vorteil des (Neo)-Liberalismus. Aufgrund deren Verfassung können die bisherigen Abkommen nicht revidiert werden. Alles, was auf der Ebene der EU-Grundverfassung steht und geregelt wird, kann nicht mehr durch die Politik verhandelt werden. Das stellt kein Problem dar, solange die Abkommen nur Grundregel beinhalten.
Aber dieses ist nicht der Fall in der Union, denn die Abkommen sind voll mit Normen, die normalerweise mit der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten zu tun haben. In diesem Fall kann der EUGH seine eigene Rechtsprechung nach Lust und Laune umsetzen. Die europäischen Bürger/innen sind aus diesem Prozess voll und ganz ausgeschlossen.
Dennoch, bei der Verteidigung des Grundgesetzes bleiben die EU-Mitglieder nicht allein gelassen. Speziell bei der Umsetzbarkeit der Abkommen können sie sich an den EUGH wenden. In diesem Fall bleibt der EUGH kaum einer Möglichkeit, die Abkommen zu ändern, weil eine Änderung automatisch einer Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten bedarf.
Viele Kommentatoren suchen die negative Einstellung gegenüber der EU beim EU-Parlament, das sehr schwach ist. Aber es ist zweifelhaft, dass die Umwandlung der EU in einem parlamentarischen System die demokratischen Auseinandersetzungen in Europa lösen könnte.
Wir können nur Landesgruppierung wählen, die Landespolitik betreiben. Dennoch spielen diese politischen Gruppierungen überhaupt keine Rolle in Straßburg. Nur die europäischen Gruppierungen haben das Sagen. Aber diese werden nicht von den Europäern gewählt.
Es gibt keine öffentliche Konsultation in Europa, aber wohl 27 Landesvertretungen mit gemeinschaftlichen Fragen. Solange die gesellschaftliche Substanz für eine demokratische Integration in der EU fehlt, um die Union in einem einheitlichen Parlament umzuwandeln, wird das Misstrauen der Bürger/innen weiterhin zunehmen.
Dennoch würde mehr Machtvergabe an das EU-Parlament wenig zur Demokratisierung der Entwicklungsprozesse beitragen. Man kann sogar sagen, dass die Umwandlung der Union in einem parlamentarischen System die Demokratie in Europa abschwächen würde. Ursprünglich entstammte die demokratische Legitimierung der Union aus den Mitgliedstaaten. In dieser Zeit musste keinem Staat sich einem Gesetz unterwerfen, das von seinen demokratischen gewählten Behörden noch nicht abgesegnet wurde. Erst ab 1987 wurde das Mehrheitsprinzip abgeschwächt.
Die Union leidet unter eine übertriebene Grundverfassung. Das Europäische Parlament hat überhaupt keinen Einfluss. Falls wir die Legitimierung der Union erhöhen wollen, müssen die realen politischen Entscheidungen von der Verwaltung und Justiz getrennt und der Politik übertragen werden. Selbstverständlich muss die Union im Fall vom Verstoß die Möglichkeit haben, seine Rechtsprechung geltend zu machen. Gesetzlich ist es sehr einfach, eine Rechtsprechung anzupassen oder zu ändern.
Im Gegenteil ist das auf politischer Weise komplizierter. In jeden Fall kann das weiterlaufen, solange die demokratischen Kosten für die Schaffung der EU-Grundverfassung den Bürger/innen vorenthalten werden.
Im Vergleich zum französischen Bundesgerichtshof hat sich der deutsche Bundesgerichtshof stets sehr kritisch über den Demokratiemangel bei den europäischen Behörden ausgesprochen. Seit 1974 hat der Bundesgerichtshof mehrere Entscheidungen getroffen, die besagen, dass solange das deutsche Grundgesetz weder von der Gemeinschaft noch von der Union effektiv garantiert werden kann, wird die Unterzeichnung neuer Abkommen stets im Namen des deutschen Volkes abgestimmt, wie es in der Verfassung steht. Das Abkommen von Lissabon beinhaltet diese Ausnahme. Dieter Grimm hat zu diesen Abstimmungen beigetragen.
Ist die EU nur noch eine Elitenmaskerade? Falls die Akteure wie bis jetzt weitermachen, dann schon. Wie man schön sagt: Wer die Karre vor dem Esel spannt, wird überhaupt nicht weiter kommen. Wie die EU gestartet ist, wird sie so nicht lange weiterfahren.
Quelle:
* Basierend auf einem Artikel aus „Le Monde Diplomatique“ französische Ausgabe, Originaltitel „Quand le juge dissout l‘électeur“ de Dieter Grimm*, August 2017. Er ist ehemaliges Mitglied des Bundesgerichtshofs und Professor am Wissenschaftskolleg in Berlin.